(Kein) Land in Sicht

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Nichts wie raus aus der Stadt und dann Landschaft wohin das Auge reicht, am besten mit Seeblick. Der Rückzug aufs Land hat sich für viele nach einem Jahr Pandemie von einer Sehnsucht zu einem unmittelbaren Bedürfnis gewandelt. Doch es ist auch Superwahljahr, und das Einfamilienhaus zu einem Politikum geworden. Gleichzeitig wird um die Stadt der Zukunft gerungen. Wie wollen wir leben? pressrelations hat sich dazu die mediale Debatte der letzten zwölf Monate angeschaut und die Google-Suchen der Menschen zu diesem Kontext genauer betrachtet.

Sperrig-schöne Komposita sind ein essenzieller Bestandteil der Verb-faulen deutschen Sprache. “Eigenheim” ist einer dieser Begriffe, die simpel scheinen und doch so viel meinen. Wer “Eigenheim” sagt, macht gewollt oder ungewollt gedankliche Schubladen auf, deren Inhalte unterschiedlicher nicht sein könnten. Sehnsüchte, politische Realitäten, der milliardenschwere Immobiliensektor und die Folgen des Klimawandels sind einige davon, lassen sich aber nur schwer gemeinsam verstauen. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Interview mit dem Grünen-Vorsitzenden Anton Hofreiter, in dem er vor den ökologischen Folgen des unbegrenzten Eigenheim-Baus in Neubaugebieten warnte, gleichermaßen emotional formulierte Kritik wie Solidarität erntete. Die BILD witterte gleich Enteignung – wer das Einfamilienhaus in Zweifel zieht, hat einen schweren Stand in Deutschland.

Sehnsucht nach Klinker

Die Strahlkraft des US-amerikanischen Credos, alle und jeden bei ausreichendem Engagement zu einem Millionenvermögen bringen zu können, hat in Deutschland der vage Traum von den eigenen vier Wänden plus Gartenzaun, allen Veränderungen der Wirklichkeit zum Trotz. Oder wie es ein schwäbischer Fuchs im gelben Shirt mit Backstein-Print seit mehr als vier Jahrzehnten auf den Punkt bringt: “Auf diese Steine können sie bauen.”[1] . Über die letzten Jahre sind trotz der dünnen Margen für Printprodukte zahlreiche neue Magazintitel erschienen, die der (neuen) Lust nach einem besseren, hyggeligeren Leben auf dem Land Tribut zollen. Seitdem Corona unsere Lebensumstände dauerhaft auf den Kopf gestellt hat, hat sich diese bereits existierende gesellschaftliche Tendenz noch einmal beschleunigt. Das zeigen auch aktuelle Erhebungen: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Civey im Auftrag der ZEIT wünscht sich ein Drittel der Großstädter einen Umzug aufs Land oder in eine kleinere Stadt.[2] Einer Studie der BHW Bausparkasse zufolge befürworten außerdem 71 Prozent der Deutschen eine stärkere Förderung des Wohnens auf dem Land.[3]

Rein in den Speck

Eine Analyse der Medienbeiträge im pressrelations SearchPool zum Thema Stadtflucht, Wegzug aufs Land und Suburbanisierung in Verbindung mit Corona (unter Ausschluss von Beiträgen mit touristischem Fokus) und der Google-Suchanfragen für “Grundstück kaufen”, “Bausparvertrag” und “Haus bauen” über die letzten zwölf Monate, scheint die Ergebnisse der Umfragen zu bestätigen. Fast 1.000 Beiträge in überregionalen und regionalen deutschen Top-Medien treibt die Frage nach Stadtflucht und Suburbanisierung um, oder, wie die ZEIT sehr griffig formuliert, der fortschreitende “Speckgürtel-Effekt”. 63 Prozent der Beiträge fokussieren sich dabei auf den Themenkomplex der “aufs Land” Ziehenden bzw. Gezogenen. Gleichzeitig zeigen erste offizielle Statistiken, dass im Jahr 2020 die Einwohnerzahl Berlins zum ersten Mal seit 15 Jahren zurückgegangen ist. Die Bevölkerung in der Region ist nur stabil geblieben, weil Brandenburg im gleichen Zeitraum zugelegt hat.[4]

Zu "Grundstück kaufen" gibt es die meisten Suchanfragen, gefolgt von "Bausparvertrag" und "Haus kaufen". Über das letzte Jahr ist das Beitragsaufkommen immer wieder angestiegen.
Berichterstattung auf Google Trends im zeitlichen Verlauf – Thema Bauen und Grundstücke

Ein Grundstück im Grünen

Den Speckgürtel-Effekt zeigt die aktuelle ZEIT-Karte[5] zur Quadratmeterpreisentwicklung auch besonders eindrucksvoll für Brandenburg. Gerade die seenreichen Gegenden, nicht allzu fern des BER und der Tesla-Fabrik, zeigen die stärksten Anstiege. Brandenburg ist auch absoluter Spitzenreiter beim Suchinteresse für “Grundstück kaufen”, gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern – das durch die Zuganbindung vieler mittlerer Städte ebenfalls als Speckrand Berlins gesehen werden kann – Hamburg und Bayern. Bremen, das bereits 2019 zum ersten Mal seit 20 Jahren mehr Fortzüge als Zuzüge verzeichnete, zeigt hier ebenfalls ein hohes Suchinteresse. Im Ländle des Sparfuchses liegt das Suchinteresse am “Bausparvertrag” übrigens fast gleichauf mit den Fragen zu einem Grundstückskauf.

Vor allem in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Hamburg und Bayern wird am meisten nach "Grundstück kaufen" gesucht. Die meisten Suchen nach "Haus bauen" gibt es in Sachsen-Anhalt", und nach "Bausparvertrag" googeln die meisten in Baden-Württemberg.
Suchinteresse auf Google Trends nach Bundeländern

Homeoffice: Wunsch und Wirklichkeit

Der Wunsch nach mehr Land ist also Realität. Aber wie sieht es mit anderen Realitäten aus? Für viele Menschen bedeutet ein Wegzug aus der Stadt eine primäre Tätigkeit im Homeoffice. Das wiederum macht eine sehr gute Internetanbindung unabdingbar. Tatsächlich ist es laut einer Studie im Auftrag des BAMS für 84 Prozent der Befragten wichtig, für ein Unternehmen zu arbeiten, das ihnen einen flexiblen Wechsel zwischen Home- und Präsenzoffice ermöglicht. Könnte das die Rettung für Co-Working-Konzepte bedeuten? Schwer zu sagen, aber zumindest legen Zahlen aus Berlin nahe, dass es um Büros trotz Pandemie gar nicht so schlecht bestellt ist. In Berlin liegt beispielsweise die Leerstandsrate für 2020 nur bei 1,5 Prozent (Paris: 7,2 Prozent; London: 8,7 Prozent). Hinzu kommt, dass viele Firmen nicht vorhaben, den Beschäftigten nach überstandener Krise mehr Homeoffice zu ermöglichen als vorher. Nur größere Unternehmen ab 250 Angestellten waren in einer aktuellen Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auch in Zukunft offen für flexible Arbeitsmodelle. Das ist nicht nur eine ernüchternde Nachricht für Co-Working-Anbieter, sondern auch für Sozialverbände, die leerstehende Büroflächen gern in dringend benötigten Wohnraum umwandeln würden. [6]

Der Preis ist heiß

Die Zahlen in der ZEIT-Grafik zeigen auch, dass bezahlbarer Wohnraum kaum noch in den Wohnzimmern Münchens oder Berlins zu finden ist. Der Boom hat sich ausgebreitet nach Augsburg, Nürnberg und ins Brandenburgische. Dort, wo es massig Leerstand gibt und die Grundstückspreise niedrig sind, finden sich eher selten Kühe mit Hörnern und Milchautomaten an der Zufahrt zum benachbarten Bauernhof. Was es dort gibt, sind gähnend leere Fußgängerzonen, die in den späten 80ern als Tribut an das Auto und mit neidvollem Blick auf die 100km entfernte Großstadt gebaut wurden. Und sehr langsames Internet. Da bräuchte es schon einen Tesla-Effekt von Altena bis Goldkronach, damit sich hieran etwas ändert. Schwaches Internet spielt eine untergeordnete Rolle in den meisten Berufen, in denen Homeoffice von vornherein unmöglich ist, aber für viele, die ihr Tagewerk am Rechner verbringen, ist WLAN so essenziell wie ein Stromanschluss.

Wie, nicht wo

Was auch häufig ausgeblendet wird, ist die unaufhörlich steigende Zahl der Single-Haushalte: 17,6 Millionen Menschen in Deutschland lebten im Jahr 2019 allein, ein Anstieg von 34 Prozent auf 42 Prozent zwischen 1991 und 2019. Fast die Hälfte der Single-Haushalte (42 Prozent) findet sich in Großstädten ab 100.000 Einwohnern. All diese Singles können wohl kaum aufs Land ziehen, vor allem nicht, wenn sie alt werden und zwei Stockwerke ohne Aufzug so mühsam werden wie der Aufstieg zum Nanga Parbat. Die neuen Wohngemeinschaften, die gerade auf dem Land entstehen, die genau solches generationen- und bedürfnisübergreifendes Wohnen ermöglichen sollen, werden dazu nicht ausreichen.[7]

Die Dichotomie Stadt-Land ist weniger ausgeprägt als es unsere Sehnsüchte vermuten lassen. Vom kleinsten Dorf bis zur größten Stadt geht es vor allem darum, wie wir wohnen möchten, wie wir unsere Städte und Dörfer nutzen wollen. Um über das „wo“ gänzlich frei entscheiden zu können, braucht es bestimmte Privilegien. Doch das „wie“ liegt in den Händen von PolitikerInnen und Stadtplanungsbeauftragten – und zumindest erstere werden von uns gewählt. Seit der damalige französische Staatspräsident Georges Pompidou in den 60ern sagte, man müsse die Stadt dem Auto anpassen, ist viel Wasser die Seine und die Spree heruntergeflossen. Und dann kam auch noch eine Pandemie. Plötzlich wird uns bewusst, wie wichtig Platz in der Stadt ist. Auf den Gehwegen, auf den Radwegen, in unseren Parks, zwischen den Häusern und Höfen. Und es springt ins Auge, was schon in den 60ern Tatsache war: Frauen nutzen die Stadt anders, sie gehen zu Fuß – oft mit Kinderwagen –, sie fahren Rad, und sie verweilen länger im öffentlichen Raum.

Jenseits des Gartenzauns

Es verwundert daher nicht, dass es zwei Frauen sind, die gerade dabei sind, die Metropolen Barcelona und Paris für die Mobilitätsanforderungen und Lebensbedürfnisse des 21. Jahrhunderts fit zu machen. So kündigte die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, im November an, dass 21 Straßen bis 2030 in autofreie Zonen umgewandelt werden sollen.[8]
Diese sogenannten Superblocks – die ersten wurden in Barcelona im Jahr 2016 eröffnet – erinnern an große Dorfplätze und bieten auch eine Chance, die Stadt stärker zu begrünen. 1.000km entfernt treibt die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo seit Jahren eine radikale Umwandlung der französischen Hauptstadt voran. Die Pandemie nutzte sie, um die Hauptverkehrsachse Rue Rivoli für Autos zu sperren. Lapidar merkte Hidalgo dazu an: “Paris im Auto von Westen nach Osten zu durchqueren ist nicht mehr möglich”. Pop-Up-Radwege möchte sie in reguläre Radwege umwandeln, damit die Stadt auf dem Vélo in 15 Minuten durchquert werden kann. Fast überall im Stadtgebiet soll Tempo 30 eingeführt werden. Ein denkwürdiger Ansatz auch für Berlin, wo 2020 dreimal mehr Radfahrende als 2019 getötet wurden.[9]
70.000 Parkplatzflächen sollen in Paris Grünflächen weichen, und Gebäude, statt abgerissen, mit Holz, Stroh oder Hanf renoviert werden. Hidalgo wurde letztes Jahr wiedergewählt.

Mehr Land in der Stadt, sicherer Raum für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, Kinder und Tiere. Oder, frei nach der Wiener Stadtplanerin Eva Kail, eine Stadt, die an die Frauen denkt, bezieht automatisch alle mit ein.[10]


[1] https://www.youtube.com/watch?v=TNhv2IyodjY

[2] https://www.deutschlandfunknova.de/nachrichten/wohnen-der-trend-geht-raus-aus-der-grossstadt

[3] https://www.welt.de/finanzen/immobilien/article212145601/Kantar-Umfrage-Junge-Menschen-leiden-unter-der-Wohnsituation.html

[4] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/01/brandenburg-berlin-bevoelkerung-entwicklung-2020.html

[5] https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-02/mietpreise-deutschland-2020-entwicklung-stadt-speckguertel-interaktive-karte

[6] https://taz.de/Bueroflaechen-in-der-Pandemie/!5750234/

[7] https://kommunal.de/KoDorf-zwei

[8] https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-11-11/barcelona-s-new-car-free-superblock-will-be-big

[9] https://www.tagesspiegel.de/berlin/mehr-verkehrstote-in-berlin-2020-starben-fast-dreimal-so-viel-radfahrer-wie-2019/26767886.html

[10] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/kulturjournal/Gender-Planning-Stadtplanung-fuer-Frauen,genderplanning104.html

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